Kugelsichere Westen und Stahlhelme für unsere Kinder?

Ein Bericht aus dem Leben in Dachsen

 

1. Was sich ereignete

Am 20. März klingelte es an unserer Haustür. Ein Mädchen stand da, mit einer grossen, bewegungslosen, blutigen Rabenkrähe ("Gwaagg") in der Hand. "Können Sie bitte etwas machen? Ich habe das Tier auf der Hindergartenstrasse aufgelesen, vor dem Haus Nr. 146." Wir nahmen die verletzte Rabenkrähe in Empfang und sahen auf den ersten Blick, dass die linke Kopfseite schwer verletzt und das linke Auge geschlossen waren. Wir setzten den Patienten in einen kleinen Käfig mit der Überlegung "zuerst dem Tier Ruhe geben und schauen, ob es die nächsten Stunden überlebt ...". Nach etwa einer halben Stunde - der Käfig mit dem Patienten stand jetzt zur besseren Überwachung im Arbeitszimmer - stiess die Rabenkrähe während mehr als einer Viertelstunde ununterbrochen unerträglich laute Krahh-Krahh-Krahh-Rufe aus. Anscheinend war sie aus dem Schock des Unfalls erwacht, und der Verletzungsschmerz setzte akut ein. Später am Abend spülten wir die gröbsten Blutspuren weg. Am nächsten Morgen lebte die Rabenkrähe zu unserem Erstaunen immer noch. Wir überlegten nun, welche sichtbaren und nicht sichtbaren Verletzungen die Rabenkrähe haben könnte, ob wir sie überhaupt pflegen konnten und vor allem, welche Chancen sie hätte, falls sie überleben würde. Nach Abwägen der verschiedenen Fakten legten wir die Strategie fest, erst nach einer dreiwöchigen Rekonvaleszenzzeit über Weiterleben oder Euthanasie zu entscheiden und in der Zwischenzeit herauszufinden, was die Verletzung verursacht haben könnte. Wir nannten die Rabenkrähe aus nahe liegenden Gründen "Ahab".

 

2. Der Verdacht

Die drei nun folgenden Wochen waren für uns aufschlussreich hinsichtlich der möglichen Verletzungsursache. Wir prüften und verwarfen in der Folge die Ursachen "Autounfall", "Flugunfall" und "Raubvogel-Attacke". Übrig blieb die Ursache "Gewehrschuss".

 

3. Die Bestätigung

Die Ursache "Gewehrschuss" konnte mit Röntgenaufnahmen beim Tierarzt leider bestätigt werden: Die Röntgenbilder zeigten mehrere Kugelsplitter im und am Kopf des Vogels. Die Kugel war beim linken Unterkiefer in den Vogelkörper eingedrungen und an der linken Kopfhinterseite wieder ausgetreten. Auf ihrem Weg durch den Vogelkopf hatte sie das linke Unterkiefergelenk zerstört, eine Knochenspange auf der linken Unterschnabelseite durchschlagen, Gewebe in der linken Wange blutig zerfetzt, einen Bereich der Schädelkapsel (links, hinter dem Ohr) zerstört und Kugelsplitter im linken Auge, in einer Knochenspange im Schnabel und an der Schädelkapsel hinterlassen. Die Kugel (ohne die Splitter im Vogelkopf) war dann weitergeflogen. Wie weit noch und wohin wissen wir nicht.

 

4. Protokoll der Genesung

Tag 1-4: Ahab sieht auch mit dem seinen unverletzten rechten Auge nichts, er reagiert auch nicht auf akustische Reize, er frisst nicht und er trinkt nicht. Wir müssen Ahab Futter und Medikamente in den Rachen einflössen resp. stopfen. Auch beim Schlucken hat er grosse Mühe.

Tag 5 (25. März): Ahab beginnt auf akustische Signale zu reagieren. Immer noch keine Reaktion auf optische Signale. Wir stellen die Fütterung um. Ahab wird jetzt mit Katzen-Möckli gefüttert.

Tag 7 (27. März): Ahab ist erstmals draussen. Wir spritzen ihn mit Wasser leicht ab, Ahab macht etwas Körperpflege (Federn richten, Schnabel an Stein reiben, Hinterfusskratzen; kein Baden!). Er geht nur wenig umher, scheint die Hindernisse nicht zu erkennen. Von jetzt an ist Ahab täglich abends ein bis zwei Stunden draussen in der mit Netz eingepackten Esel-Koppel.

Tag 8 (28. März): Er scheint auf den Anruf "Ahab" zu reagieren, er hört uns also. Wie gut wohl?

Tag 9 (29. März): Beim Füttern spüren wir deutlich mehr Kraft im Schnabel. Ahab macht immer wieder Pickbewegungen gegen Gegenstände (erlernt Picken).

Tag 10 (30. März): Erstmals hören wir einen Laut von Ahab (der erste seit seinem Schockschreien am Unfalltag). Draussen trinkt Ahab erstmals selbständig aus der Vogeltränke.

Tag 11 (1. April): Erstmals äussert Ahab einen lauten Abwehrruf, wenn wir ihn in die Hand nehmen (zur Zwangsfütterung). Nachmittags ist er draussen. Ahab klettert bis zum 4. Querdraht des Knotengitters, schlüpft durch, springt auf die Mabrouca-Tränke, badet den Kopf, macht im Trockenen Badebewegungen mit den Flügeln.

Tag 13 (3. April): Draussen steigt Ahab auf den Apfelbaum (wir sehen nicht, wie er dorthin kommt).

Tag 14 (4. April): Ahab wirft sich ein DogDog-Möckli, das er im Schnabel hält, in den Schlund (ein weiterer Fortschritt beim Fressen).

Tag 19 (9. April): Ahab schluckt Futter, das wir ihm auf die Zunge legen, selbständig hinunter.

Tag 21 (11. April): Röntgen beim Tierarzt.

Tag 22 (12. April): Wir beobachten Ahab bei einem kurzen Flug vom Rücken von Esel Mabrouca auf den Apfelbaum. Offenbar sieht Ahab genügend, um den Landepunkt zu erkennen.

Heute besprechen wir die Röntgenbilder mit einem zweiten Tierarzt (second opinion).

Tag 23 (13. April): Ahab nimmt erstmals selbständig DogDog-Futtermöckli aus einer Schale, die wir ihm vor den Schnabel halten, und schluckt sie.

5. Stopp: Filmschnitt / Time-out

Angenommen, der Schuss aus der Waffe des Schützen hätte nicht Ahab, nicht ein Tier, sondern z.B. Ihr Kind getroffen, das am helllichten Tag mitten im Dorf Dachsen unterwegs zum Kindergarten, zur Schule ist oder im Garten hinter dem Haus, auf dem freien Platz der Überbauung spielt. Angenommen, das oben festgehaltene Protokoll wäre das Genesungsprotokoll Ihres Kindes. Alles schrecklich und unvorstellbar, nicht wahr! Unvorstellbar??

Wie hätten Sie reagiert? Was hätten Sie unternommen?

 

6. Was tun?

Wir jedenfalls haben Anzeige gegen Unbekannt (wegen Verstoss gegen das Tierschutzgesetz, Art. 2, Abs. 3) eingereicht; denn wir akzeptieren nicht, dass mitten in der Wohnzone, am helllichten Tag, von Schusswaffen Gebrauch gemacht wird, die nicht einfach Fasnachts-Käpseli-Pistolen sind und deren Kugeln viele Meter weit auf ihrer Flugbahn durch die Luft zischen und mit grosser Zerstörungswucht Menschen und Tiere treffen können.

Den Schützen finden und ihm beweisen, dass er geschossen hat, ist kaum machbar. Möglicherweise schiesst er wieder; es sei denn, er wird sich bewusst, was er anrichten kann.

Bis es soweit ist: Kugelsichere Westen und Stahlhelme für unsere Kinder!

 

 

Dachsen, 6. Mai 2001

Doris Walzthöny und Ingo Rieger